Großes Potenzial: Macher planen Genossenschaftsboom
04.06.2020
Genossenschaften sind vielfältig und besitzen das Potenzial zur Verknüpfung globaler Ziele mit regionaler Wirksamkeit. In Wiesbaden trafen sich noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie rund 180 "Macher", um das Wachstum solch nachhaltiger Ökosysteme voranzutreiben.
Genossenschaften liegen voll im Trend, denn sie gestalten Zukunft: bei erneuerbaren Energien, bezahlbarem Wohnraum, hochwertiger Bildung, ärztlicher Versorgung, Regionalentwicklung und vielem mehr", sagt Norbert Rollinger, Vorstandsvorsitzender der R+V-Versicherung, einer Tochter der genossenschaftlichen Finanzgruppe der Volks- und Raiffeisenbanken in Deutschland. Er lieferte damit den Startschuss zum ersten MakerCamp Genossenschaften in Wiesbaden. Gemeinsam mit der Akademie Deutscher Genossenschaften (ADG) wurden dort rund 180 Befürworter der ursprünglichen Idee Friedrich Wilhelm Raiffeisens empfangen. Angereist aus den unterschiedlichsten Regionen in Deutschland, Österreich und Südtirol eint sie eine gemeinsame Vision: zum Wachstum genossenschaftlicher Ökosysteme beizutragen und regionale Antworten auf teils globale Fragen zu finden.
"Genossenschaften sind Teil der Lösung"
"Die Zeit dafür ist reifer denn je", meint Ingmar Rega, der Vorstandsvorsitzende des Genossenschaftsverbandes-Verband der Regionen, und betont: "Aufgrund von Megatrends wie der Urbanisierung haben wir Antworten darauf zu geben, was in den ländlichen Räumen in Zukunft passieren soll. Da können Genossenschaften durchaus ein Teil der Lösung sein." Die Lebenswirklichkeit am Land werde dadurch spürbar attraktiver und die Wertschöpfung vor Ort gestärkt. Rega sieht zudem in der aktuellen Niedrigzinsphase auch "jede Menge an Kapital, das Verwendung sucht". Genossenschaften würden hierzu vor allem die Möglichkeit für ein "Investment an Lebensqualität" anbieten.
Auch im Blick auf weitere globale Trends erkennt Rega gleich mehrere relevante Entwicklungsstränge, die in das Genossenschaftswesen münden. Beispielsweise in der Wissenskultur im Zusammenspiel mit der Konnektivität. Oder aber auch beim Thema Neo-Ökologie, wo Bio-Märkte, die EU-Plastikverordnung oder die Energiewende eine Rolle spielen. Rega hebt dabei das Konzept der Solidarischen Landwirtschaft (SoLaWi) hervor, bei dem mehrere private Haushalte die Kosten eines landwirtschaftlichen Betriebs tragen, wofür sie im Gegenzug dessen Ernteertrag erhalten. Der Wirtschaftsprüfer und Steuerberater bezeichnet es als "neues Element", um gerade im politisch schwierigen Umfeld der Agrarwirtschaft ein Stück weit mehr Partizipation und mehr Verständnis zu wecken. Am stärksten wirke die "Wir-Kultur" im Sinne einer "Sharing Economy", ist Rega überzeugt. Als Gegentrend zur Individualisierung könne diese eben genossenschaftlich geprägt sein.
Genossenschaften sollen boomen
Genossenschaften entstehen, weil sie gebraucht werden. Weltweit gibt es über eine Milliarde Mitglieder in rund drei Millionen Genossenschaften. "Und sie sind mehr als nur eine Unternehmens- und Rechtsform", erklärt R+V-Innovationsmanager André Dörfler. "Sie sind ein Mind- und Toolset für eine bessere Welt - regional und global. Denn Genossenschaften tragen klar zur Erreichung der SDGs (Sustainable Development Goals), also den 17 Zielen für Nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen, bei." Dörfler spricht dabei in der Zeit bis 2030 von der "Decade of Action" im Sinne einer nachhaltigen Transformation der Welt. Dementsprechend ambitioniert und bewusst "wild gedacht" sei die Vision des MakerCamps, so der Mitorganisator: Bis 2030 soll es 30.000 Genossenschaften in Deutschland geben - statt wie bisher rund 7.700.
Die Möglichkeiten sind dabei vielfältig. Die Bandbreite erstreckt sich neben dem gängigen Modell einer Genossenschaftsbank über die Bereiche Energie, Mobilität, Wohnen, Gesundheit, Ernährung, Digitalisierung, Bildung bis hin zu Handwerk oder Kultur- und Freizeitverbünden. Aber auch Genossenschaften, in denen Schüler nachhaltig wirtschaften und solidarisch handeln lernen, sind zunehmend im Entstehen. So auch in Österreich, wo unter Federführung des Österreichische Raiffeisenverbandes (ÖRV) derzeit ein Pilotversuch zur Implementierung von Schülergenossenschaften mit jeweils echten Partnergenossenschaften vor Ort in Vorbereitung ist.
Postiver Einfluss auf lokale Entwicklung
Welchen positiven Einfluss Genossenschaften auf die kommunale Entwicklung haben können, wurde im Zuge des MakerCamps am Beispiel der hessischen Gemeinde Marktflecken Mengerskirchen aufgezeigt. Mit der Gründung einer Bürgergenossenschaft wurde dort der lokale Beitrag zur Energiewende mit der Installierung eines Windparks möglich, der seit 2014 einen rund 150-prozentigen Deckungsgrad in der Selbstversorgung für knapp 6.300 Haushalte garantiert. Eine der Folgen: ein Anstieg von über 50 Prozent an lokalen Arbeitsplätzen in den letzten acht Jahren.
Solch beispielgebende Projekte sind ein Mitgrund, weshalb sich auch eine Genossenschaft-affine Delegation aus Österreich unter die Akteure des Camps gemischt hat, um visionäre Ideen gemeinsam zu erarbeiten. Unter ihnen waren auch Armin Friedmann, der Direktionssekretär des Raiffeisenverbandes Steiermark, und Justus Reichl, stellvertretender Generalsekretär des ÖRV sowie Leiter des Kompetenzzentrums Genossenschaft. "Das MakerCamp in Wiesbaden hat nicht nur gezeigt, wie punktgenau Genossenschaften am Puls der Zeit liegen. Sehr deutlich wurde auch, wie stark neue Gründungen von der Kooperation mit etablierten Genossenschaftsbanken profitieren können - und umgekehrt", sieht Reichl genau darin eine große Chance auch für Raiffeisen in Österreich.